Einfallstor für Mobbing
Anders als in anderen Institutionen ist ausgerechnet das Regelwerk der Kirche selbst, das Pfarrdienstgesetz, als „Einfallstor für Mobbing“ zu bezeichnen. Denn in Teilen ihrer Rechtsauffassung entspricht die Kirche nicht der „für alle geltenden“ Rechtsstaatlichkeit.
Das wird deutlich im Pfarrdienstgesetz der EKD und der Landeskirchen am – früher so genannten – „Ungedeihlichkeitsparagrafen“, der jetzt nach der EKD-Überarbeitung des Pfarrdienstrechtes im Jahr 2010 umständlicher als „nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes“ formuliert ist. In § 79 wird gesagt, dass Pfarrpersonen „versetzt“, d.h. aus ihrer Gemeinde abberufen werden können, wenn „ein besonderes kirchliches Interesse“ vorliegt. Und dieses liegt – „ … insbesondere vor, wenn (Abs. 5) … in ihrer bisherigen Stelle oder ihrem bisherigen Auftrag eine nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes … festgestellt wird.“
Was das sein soll, beschreibt §80 (1): „Eine nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes im Sinne des § 79 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 liegt vor, wenn die Erfüllung der dienstlichen oder der gemeindlichen Aufgaben nicht mehr gewährleistet ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Verhältnis zwischen der Pfarrerin oder dem Pfarrer und nicht unbeträchtlichen Teilen der Gemeinde zerrüttet ist oder das Vertrauensverhältnis zwischen der Pfarrerin oder dem Pfarrer und dem Vertretungsorgan der Gemeinde zerstört ist und nicht erkennbar ist, dass das Vertretungsorgan rechtsmissbräuchlich handelt.“
Ein höchst folgenschwerer Satz lautet: „Die Gründe für die nachhaltige Störung müssen nicht im Verhalten oder der Person der Pfarrerin oder des Pfarrers liegen.“
Dieser Satz klingt zunächst vermeintlich gut, kann sich jedoch als höchst-folgenschwer erweisen. Denn er besagt, dass die Gründe für einen Gemeindekonflikt oder den behaupteten Vertrauensentzug von Kirchenältesten/Kirchenvorständen/Presbytern nicht nachgefragt werden müssen, da sie völlig gleichgültig sind. Im Begründungstext der EKD zu diesem § 80 heißt es denn auch:
„Die Versetzung ist auch dann zulässig, wenn die Gründe für die Zerrüttung nicht in dem Verhalten der Pfarrerin oder des Pfarrers liegen; … Eine Prüfung der Frage, wer oder was der derzeitigen Pfarrerin oder dem derzeitigen Pfarrer die gedeihliche Führung des Pfarramts unmöglich gemacht hat, verbietet sich im Allgemeinen, weil diese Frage als solche unerheblich ist.“
Und genau darin liegt das Einfallstor für Mobbing aller Art! Eine kleine Gruppe allein von wenigen Personen in der Gemeinde braucht nur einen Konflikt zu inszenieren oder einige Wortführer im Kirchengemeinderat müssen nur behaupten, dass sie zum amtierenden Pfarrer kein Vertrauen mehr haben. Und schon ist diese Pfarrperson, wenn denn die Kirchenleitung oder der zuständige Dekan / Superintendent mitmacht, einem Dienstenthebungs- oder einem Abberufungsverfahren mehr oder weniger hilflos ausgesetzt.
Am 25. April 2016 wurde beim Lutherischen Klassentag (der Kreissynode der lutherischen Gemeinden in der Lippischen Landeskirche) ein Vortrag von Sabine Sunnus vorgelesen mit dem Titel: „Mobbing in der Evangelischen Kirche“. Nach einer Erörterung der Frage, was „Mobbing“ ist und wie es heute definiert wird sowie nach einer längeren allgemeinen Einführung, wie „Mobbing am Arbeitsplatz“ verläuft, kam das Thema zur Darstellung. Hier wurde der irritierende Sachverhalt aufgezeigt, dass anders als in anderen Institutionen ausgerechnet das Regelwerk der Kirche selbst, das Pfarrdienstgesetz, als „Einfallstor für Mobbing“ bezeichnet werden muss:
„Wenn man jetzt das eben Gehörte als Folie über das Mobbing-Prozedere in der evangelischen Kirche legt, sieht man den immer gleichen roten Faden im Fortlauf, aber auch gravierende Unterschiede – nicht nur in Bezug auf kirchenspezifische Inhalte, sondern vor allem im institutionellen Rechtsverständnis und dem Umgang mit dem Recht. In Teilen ihrer Rechtsauffassung entspricht die Kirche nicht der „für alle geltenden“ Rechtsstaatlichkeit.“
Der volle Wortlaut des Vortrags kann hier nachgelesen werden.
Vortrag und Aussprache beim Lutherischen Klassentag haben in der Presse ein erstaunliches Echo ausgelöst. Zum ersten Mal wurde öffentlich, nämlich in einem Kommentar der Lippischen Landeszeitung, gefordert, dass dieser kirchliche Paragraph abgeschafft werden müsse.
Nach sachgemäßer Wiedergabe des Vortrags wie auch der folgenden Aussprache schrieb die Journalistin Marianne Schwarzer unter der Überschrift: „Auch Pfarrer brauchen Schutz“, einen Kommentar, in dem erstmalig öffentlich und von außen das Pfarrdienstgesetz der Kirche angeprangert wird.
Zitat: „Auch wenn sich beim Klassentag nur die Lutheraner mit dem Thema Mobbing gegen Pfarrer auseinandergesetzt haben: Das Pfarrdienstgesetz gilt für die gesamte Evangelische Kirche Deutschlands. Es wird höchste Zeit, den darin enthaltenen ˏUngedeihlichkeitsparagraphenˊ zu ändern.“
Zeitungsbericht und Kommentar sind in der Lippischen Landeszeitung vom 27. April 2016, S.8, abgedruckt.
Der Zeitungsbericht kann unter diesem Link nachgelesen werden.
Der Geschichte der Versetzung von Pfarrern gegen ihren Willen ist Hans-Eberhard Dietrich in vielen Untersuchungen nachgegangen. Dabei hat Dietrich die Wurzeln dieses Rechtskonstruktes aufgespürt, die bis in die 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen und zum Teil auch aus dem nationalsozialistischen Beamtengesetz 1937 wie Pfarrerdienstordnungen deutschchristlicher Kirchen stammen. Das im Jahr 2010 von der Synode der EKD verabschiedete Pfarrdienstgesetz geht in seinen Paragraphen 79 und 80 nachweislich auf solche Wurzeln zurück.
(vgl. H.-E. Dietrich/ F. Reitzig (Hg.): Beiträge zu Wartestand und Ungedeihlichkeit in der evangelischen Kirche. Eine Zusammenfassung der Texte der Homepages „Interessengemeinschaft Rechtsschutz für Pfarrerinnen und Pfarrer und Gewaltenteilung in der Kirche in Württemberg (IG Recht)“ und „Melsunger Initiative (MI)“, 2020).
Die Ergebnisse seiner Forschungen hat Hans-Eberhard Dietrich in einem kurzen Überblick im November 2021 dem Verein „D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche“ vorgestellt.
Aus dem Fazit: „Erst die Bündelung verschiedener Rechtstitel, insbesondere die negativen Rechtsfolgen, macht dieses kirchliche Gesetz zu dem, was es heute noch ist: Es ist ein Bruch mit der Rechtstradition seit der Reformation. Es diskriminiert wegen seiner Nähe zum Disziplinarrecht. Es bestraft durch Gehaltskürzung und beendet die aktive Berufstätigkeit vor Erreichung der Altersgrenze und ohne Vorliegen von Schuld oder Krankheit. Die Kirche verknüpft in ihrer Gesetzgebung ohne erkennbare logische oder theologische Gründe eine verschuldensunabhängige Versetzung mit gravierenden Rechtsfolgen. Beide Größen haben nichts miteinander zu tun.“
Der ganze Text in der leicht überarbeiteten Fassung vom 5. Februar 2022 kann hier nachgelesen werden.